Einleitung | Blick

Erzählung von Melinda Nadj Abonji
Globe oculaire

Das Bild hinter ihm hängt schief. Er steht etwas schräg da. Er muss François heissen. Oder Frédéric. Er wäre lieber ein anderer, vermute ich. Ein Marlon, James – am besten einer, den man bei einem erfundenen Namen ruft. Dann ist man wer. Frédéric fühlt sich etwas müde. Von der abgestandenen, stickigen Luft. Seinem Wissen. Er hat wieder einmal das Buch studiert, die Anatomie Humaine. Heute hat er sich mit den Muskeln beschäftigt und dem Schädelknochen. Es interessiert ihn, den Menschen zu schälen, unter seine Haut zu schauen. Was da alles zum Vorschein kommt! Und nichts oder nur sehr wenig davon ist sichtbar, wenn man in den Spiegel sieht. Wie leicht vergisst man, dass das Gesicht eine knöcherne Masse ist, die an der vorderen Hälfte der Schädelbasis hängt. 
Vor ein paar Tagen nahm ihn sein Vater zum ersten Mal in eine Ausstellung mit. Schweigend sahen sie sich die Gemälde an. Im Vorbeigehen. Frédéric wäre gern immer mal wieder stehen geblieben, aber der Vater zog ihn weiter, an einer unsichtbaren Leine. Wie ein Hündchen trottete er neben ihm her, liess sich nichts anmerken. Obwohl ihm sehr heiss wurde! Er fast aus sich herausplatzte! Aus seinem engen Kostüm. Weil eine junge Frau mit zerschlissenen Schuhen ihn anschaute, mit forderndem Blick. Als würde sie ihm etwas vorwerfen. Aber warum? Dabei lag sie so unglaublich faul und frech und farbig auf einem Felsen. Als wäre genau das ihr gutes Recht. Was würde sein Vater dazu sagen? Nichts, er ging einfach weiter, wich ihm aus. 
Ja, die Augen! Frédéric hatte das irritierende Gefühl, er würde gesehen, sogar durchleuchtet, von gemalten Augen? und wie! Die Dame mit pompösem Hut – bei der ein Besucher neben ihm begeistert rief, was für eine prächtige, majestätische Kopfbedeckung! – diese Dame befahl Frédéric, nein, ihre hellen Augen forderten von ihm, sie endlich aus ihrem Korsett zu befreien, sich dabei nicht von ihrem lächerlichen Hut, ce chapeau ridicule, ablenken zu lassen. Das müsste unbedingt getan werden, antwortete Frédéric ihrem seltsam ausgelaugten Blick. Er überlegte sich, ob er diesen Gedanken bereuen muss. Und fuhr sich mit dem Taschentuch rund um den Hemdkragen. War sein Blick etwa mit ihrem verwandt? Dass die Augen eigentlich kleine, kugelrunde Planeten sind, die sich nur in der anatomischen Betrachtung ganz zeigen, findet Frédéric faszinierend. Und nun? stehlen sie sich davon, sind so... unheimlich durstig. Saugen sich voll mit der dunklen Haut einer rauchenden Frau, die selbst so... ruhig, fast gleichgültig! einer Schlafenden zuschaut, sie beobachtet, in ihrer so... ausgestreckten Nacktheit. Und Frédéric fühlte, wie er errötete. Wie die Schlafende! Was hatte das zu bedeuten? Wollte er selbst... nackt sein, oder was? Hatte er mitgewirkt, an der Errötung der Schlafenden? Schlief sie gar nicht, sondern wusste, dass sie so... dargeboten Schaulustige anzog? Du bist nicht allein, beim Gaffen, und Frédérics Vater schmunzelte trocken, klatschte die Hand auf seinen Nacken. Frédéric taumelte. Da war sie wieder, die alte Wut auf ihn, den Erschaffer.

Der Vater hatte doch auch... gegafft, und wie! – was für ein blödes Wort, gaffen! Frédéric errötet wieder, ganz leicht. O er möchte das Buch zuklappen und lange nicht mehr aufschlagen. Sein ausgedörrtes Pflänzchen wässern. Die angegraute Frucht wegschmeissen. Er hätte grosse Lust, sich aufzuknöpfen, wenigstens den obersten Knopf. Und wenn ihm jemand dabei... zuschaute? Frédéric schliesst die Augen. O die Bilder, die farbigen Augenbilder! er fühlt sie so... frisch und wirklich – gleich wird er seine Müdigkeit ablegen, sich aus seinem Rock schälen, er wird sich hinlegen, auf ein warmes, weisses Leintuch und warten.