Kapitel 2 | (Selbst)-Portät

Erzählung von Frédéric Zwicker
Selbstporträt

Wo beginnen? Wo ansetzen? Man stellt sich vor, in der Malerei müsste es einfach sein. Zuerst ein Oval. Der Kopf. Darunter ein grösseres Oval. Der Korpus. Braucht man Beine? Vielleicht. Wenn man Beine braucht, malt man Beine, wie man Beine eben malt. Das wird man schon wissen, wie man Beine malt, wenn man malt. 
Aber so? Mit Sätzen? Man könnte mit der rechten kleinen Zehe beginnen, wie man es vom Kneipp-Duschen gewohnt ist. Es wäre ein schonungsloser Einstieg, denn die rechte kleine Zehe wurde anno 2000 im Austauschjahr in Australien bei einem Barfuss-Basketballspiel von einer Ferse mit schwerem Überbau dermassen zertrümmert und zermalmt, dass sie nie mehr gerade zusammenwachsen konnte. Ein rotes, geschwollenes, unförmiges Zäpfchen mit schroffem, trübem, scharfem Nagel. Der Rest des Fusses hingegen, wie auch sein linkes Pendant, gibt zu keiner Klage Anlass. Schmal und eher klein für einen Mann. Grösse 41. Der linke etwas grösser als der rechte. Aber lassen wir den linken vorerst weg, halten wir uns ans Kneipp-Verfahren. Es ist für ein Selbstporträt ein willkürliches Konzept, aber ein gründliches, da es jeden Quadratzentimeter Körper abdeckt. Das bedeutet allerdings auch: Wir haben es hier mit einem Akt zu tun! 
Folgen wir dem kalten Duschstrahl auf der vorderen Seite des rechten Beins aussen hoch bis zur Hüfte, innen wieder runter. Fein behaart ist alles. Ein wohl definierter Quadrizeps, das darf man sagen. Auf dem Schienbein sticht die lange, breite, weisse Narbe ins Auge. Kanu-Unfall nahe der Quelle des Weissen Nils in Uganda, im Jahr 2013. Weiter fallen bei genauer Betrachtung auf: Eine lange, schmale Narbe, die sich übers Knie zieht, ausserdem vier kreuzförmige Narben, zwei unterhalb des Knies, zwei am Fussgelenk. Sie stammen allesamt von der Operation eines Schien- und Wadenbeinbruchs Ende 2009. (Hallenfussball, übermotiviert). Nach der Operation entzündete sich der rechte Unterschenkel. Die Ärzte redeten von einer möglichen Amputation, konnten sie dank hochdosierter Antibiotika-Infusionen aber verhindern. (Eine Amputation hätte das vorliegende Selbstporträt erheblich beeinflusst. Die unförmige Zehe beispielsweise wäre weggefallen.) 
Weiter. Hinten aussen hoch bis über die Pobacke, innen runter, dann mit dem linken Bein das Prozedere von vorn. Es fällt auf: Die linke Wadenmuskulatur ist ausgeprägter als die rechte. Zum Po kann man nicht viel sagen. Einst, im Jahr 2000, in Australien, analysierte eine Mitschülerin: «You have no ass at all.» Wie sich die Dinge seither entwickelt haben, weiss man nicht. Man kriegt den Hintern selten zu Gesicht, und er wurde lange nicht kommentiert. Einschätzungen von Betrachter:innen sind explizit erwünscht. 
Was ist vergessen gegangen? Der Penis selbstverständlich. Er darf in einem Akt nicht fehlen. Wenn das Kneipp-Wasser bloss nicht so kalt wäre. Aber es handelt sich hier um ein Selbstportrt, Selbstoptimierung gehört zum Geschäft. Entsprechend in aller Bescheidenheit und Kürze: Ein Donatello oder Michelangelo wäre allemal inspiriert. 
Rechter Arm aussen hoch, innen runter, linker Arm dasselbe. Das Ruderbötchen und überhaupt der viele Sport, der auch bei ADHS helfen soll, bleibt nicht ohne Wirkung, das darf man sagen. Wenigstens auf die Muskulatur. Der Bauch, der nach dem Kopf an die Reihe kommt, ist eine andere, wechselhafte, zum Ausufern tendierende Angelegenheit. 
Der Kopf: Markante Nase, schwarzer Bart, braune Locken. Die wachsende Tonsur fällt niemandem auf. Den Torso erkundet der Strahl in einer Kreisbewegung ausgehend von der herzentferntesten Stelle. Haarig die Front, eine Brustwarze seit einer Operation im Jahr 2003 dunkler als die andere. Die linke Schulter liegt höher als die rechte. Man lastet das dem Geigenspiel an, das man ab dem siebten Altersjahr erlernt hat. Dabei hat man extra nicht so viel geübt. 
Und dann ist man auch schon fertig. Porträtiert von Kopf bis Fuss, von Zehe bis Tonsur. Ausserdem sauber, die Sinne scharf, das Blut pulsiert. Man stellt fest: Kein Selbstporträt erfrischt wie ein Kneipp-Selbstporträt.