Kapitel 2 | Neuerfindung des Selbst

Erzählung von Frédéric Zwicker
Medusa wird Medusa

Sterben will ich, sterben werde ich. Der Held tapst heran, das Schwert in der Hand. Ich spüre seine Schritte, höre sein Herz, padam, padam, padam. Hasenfuss, Flatterherz. Wenn er sich nur beeilen möchte, der verschwitzte Recke, dann müsste ich ihn nicht so lange riechen. 
Ein wenig Geduld noch. Der Held schleicht, so schnell er sich zu schleichen traut. Es bleibt Zeit zu erinnern, was ich einmal war und wie ich wurde, was ich bald gewesen sein werde. Die Geschichte ist schnell erzählt. 
Und so fängt sie an: Der Mann hat Lust. Der Mann ist ein Gott. Der Gott ist, in meinem Fall, Poseidon. Poseidon nimmt sich, was er will. Er nimmt sich mich, Medusa. Warum auch nicht? Von betörender Schönheit sei ich, heisst es. Eines Gottes Lust würdig. Besonders mein Haar wird besungen und lässt Bewerber vor der Türschwelle Schlange stehen. Allein, ich erhöre sie nicht. Ich bin Athene als Priesterin geweiht und halte mich ihr zu Ehren rein. Hielte mich rein, wäre da nicht Poseidon. Ein Gott bleibt vor keiner Schwelle stehen. Er sprengt im Galopp heran und setzt im Sprung darüber. Während er mich zwingt, im Athene geweihten Tempel, in Pferdeform, der Hengst, erscheint seine göttliche Nichte. Die Kopfgeborene, die Keusche, die Weise. Und um Poseidon zu strafen, den Gott, den Gaul, straft Athene mich, die Verführerin und Frevlerin. Schlangenhaar, Eber-hauer, eine heraushängende Zunge. Eine Fratze, die zu Stein erstarren lässt, wer sie erblickt. Ist das etwa keine gerechte Strafe für eine Versucherin, die einen Gott die Nüstern lüstern blähen lässt und ihn zwingt, sie mit Gewalt zu besteigen? 
Verbannt bin ich, verdammt bin ich, verdammt ist, wessen Blick mich trifft. Ich bin nicht mehr Medusa. Ich bin jetzt Medusa. Es ist derselbe Name, aber er hat einen veränderten Klang. Erneut wird mein Haar besungen, erneut stehen sie Schlange, die Männer. Schlange stehen vor dem Schlangenhaupt. Einer nach dem andern kommt, um seine Klinge mit Ruhm zu bekleckern. Um mich zu enthaupten. Auf Wollust folgt Mordlust. Geschwister im Geiste. Aber ich bin nicht mehr wehrlos. Ich erwidere jeden lüsternen Blick. Und während sie sich früher bei meinem Anblick nur partiell versteiften, sind jetzt alle Glieder betroffen. 
Bald säumt eine stattliche Statuen-Sammlung den Eingang meiner Höhle. Ein Skulpturen-Kabinett, das mich anfangs schreckt, an dem ich mich mit den Jahren aber ergötze. Denn es sind nicht nur die Trophäen-Jäger, die versteinern. Mit jeder neuen Statue erstarrt auch mein Herz ein bisschen mehr. Ich bin nicht mehr Medusa. Ich bin jetzt Medusa. Medusa bin ich nur in meinen Träumen noch hie und da. 
Dumm ist er nicht, der Held, der sogenannte, der noch zwanzig Schritte entfernt ist. Einen Schild benutzt er als Spiegel, um mir nicht direkt ins todbringende Antlitz zu schauen. Wobei: Ich erkenne diesen Schild. Der Held ist wohl doch nicht so schlau. Es ist Athenes Schild, Athenes List. Sie hat mich also noch nicht genug gestraft. Sie will ihre Dienerin, ihre Priesterin, ihre Kreatur nun gänzlich tilgen. Glaubt sie, mit Hilfe ihres Spiegelschilds könnte mich das Männlein bezwingen? Oder ist ihr sein Leben so wertlos wie meins? Zehn Schritte noch. Ich könnte mich verstecken, von Schatten zu Schatten springen, geräuschlos, pfeilschnell. Mich auf die Lauer legen, meine Schlangen ihr Gift in seine Wade, seinen Nacken, seinen Hintern spritzen lassen. Meine Schwestern könnte ich rufen, Stheno und Euryale, die Unsterblichen. Sie würden ihn in Stücke reissen. 
Aber ich rufe nicht, rege mich nicht. Ich, die sterbliche Gorgone, will sterben. Sterben, um zu werden, was ich in meinen Träumen manchmal noch bin. Ich will nicht mehr Medusa sein, ich will wieder Medusa sein. Werden, was ich war. Den Hauch Erinnerung retten, der mir bleibt. Den letzten Rest nicht versteinerten Herzens. Ist Schlaf dem Tod nicht am nächsten, Tod nicht dem Schlaf? Süsse Träume, süsser Tod. So. Jetzt ist er heran. Komm, kleiner Held, wag es, schwing dein Schwert. Ich stelle mich derweil schlafend.