Kapitel 3 | Stillleben

Erzählung von Dorothee Elmiger
Nature Morte

Wenn wir noch einmal zu den niederländischen Stillleben zurückgehen, zu den Kelchen, den Krügen und Silberplatten, zu den halbierten Granatäpfeln, den Trauben, den Zitrusfrüchten. Wenn wir noch einmal einen Blick werfen auf dieses Bild, beispielsweise, das aus dem Jahr 1662 stammt: Über den Tisch ist ein Perserteppich geworfen, darauf eine chinesische Ming-Zuckerdose, ein Nautiluspokal, im Vordergrund eine Zitrone, zur Hälfte geschält. Was im Hintergrund, was im Umfeld dieses luxuriösen Tisches geschieht, bleibt verschleiert: Der Raum ist lichtlos. Heute, mit unseren im 21. Jahrhundert geschulten Augen, meinen wir es trotzdem alles zu sehen: Die Schiffe der Ostindien-Kompanie, die die Meere befahren. Das rasch wachsende Handelsimperium. Die Routen des Zuckers, der Gewürze, des chinesischen Porzellans. Die Arbeit in den Plantagen. Auch jenes Meerestier aus der Familie der Kopffüsser, das man aus dem Indischen Ozean geholt hat, um sein spiralförmiges Gehäuse in Gold zu fassen und so in ein schimmerndes Prunkgefäss zu verwandeln. Wir glauben den eigentlichen Preis der Dinge sehen zu können, den Preis dieser grossen Üppigkeit. Das Stillleben aus dem 17. Jahrhundert als Dokument eines dekadenten, europäischen Festmahls: NATURE MORTE.

Stehen wir jetzt vor Martin Lauterburgs Runder Tisch mit vier Stühlen, den benutzten Gläsern und Karaffen, den halbleeren Flaschen bei Susanne Schwob, Meret Oppenheim oder Johannes Itten, vor Ernst Kreidolfs Milchsternen, die aus dem Dunkeln ragen, der Silberdistel auf dunklem Grund, zeigt sich weder die Dekadenz noch der rücksichtslose Zugriff, die Spur des Kolonialen. Der runde Tisch ist leer. Beiläufige Arrangements, schlichte, sachliche Studien. Bergblumen, Schwertlinien und Nelken. Die Anatomie eines Wiesen-Knöterichs. Wärme des Lichts. Bei Giovanni Giacometti ein Blühen, auch bei Eduard Boss. Von jenen, die diese Räume bewohnten, finden sich nur noch Spuren: Alles scheint darauf hinzudeuten, dass da eben noch jemand war und gegessen und getrunken hat. Aber nun sind die Wohnzimmer, die Küchen verlassen, die Gläser sind leer, die Stühle an den Tisch gerückt. 

Heute, mit unseren im 21. Jahrhundert geschulten Augen, meinen wir zu sehen: Das Stillleben ist womöglich pathologisch. Die erste, wörtliche Bedeutung des französischen NATURE MORTE drängt sich vor die zweite: Tote Natur nicht nur als Genrebezeichnung, sondern als Gegenwartsbeschreibung, als akute Tatsache, als Prognose einer unter Umständen katastrophischen Zukunft. Stimmt es, dass es uns nie gelungen ist, etwas anderes als tote Natur zu sehen und zu zeigen, zu verstehen und zu erinnern?

Schauen wir aus unserer Gegenwart heraus lange genug hin, verwandeln sich die Bilder vor unseren Augen in geisterhafte Szenen der Abwesenheit. Sie werden zu Dokumenten einer unwiderruflichen Vergangenheit, sie bilden eine Art Archiv der Blumen, der Pflanzen und Früchte, das uns ihre Maler und Malerinnen unwissentlich hinterlassen haben. Beinahe palimpsesthaft scheint den Gemälden ihre Zeitlichkeit eingeschrieben zu sein. Erinnerungsbilder, die Blumen gepresst zwischen den Seiten eines Albums. Das Dargestellte erzählt von seinem eigenen Verschwinden: Es leuchten uns die Blumen als Gespensterblumen aus der Dunkelheit entgegen, in der sie im nächsten Augenblick verschwinden.