Kapitel 3 | Landschaft

Erzählung von Melinda Nadj Abonji
Zug um Zug

Seit vielen Generationen, seit 1678 legen die Menschen im Walliser Fieschertal ein päpstlich abgesegnetes Gelübde ab, um die Mächte des Grossen Aletsch nicht nur mit hohen Wegkreuzen zu bannen – : – damit der Gletscher nicht weiter wachse, den Märjelensee überschwemme, das geliebte Tal mit Wassermassen, Fels- und Eisbrocken zerstöre und in der Folge die Menschen an Leib und Seele ängstige, bedrohe, verletze oder sogar töte, gelobte man, tugendhaft zu leben und die Felder an den Wochenenden nicht künstlich zu bewässern. Weil das nicht ausreichte, der Gletscher weiter kalbte, den wundersam-schillernd-schönen See zum Ausbrechen brachte, standen die Menschen am 31. Juli frühmorgens aus ihren warmen Betten auf – erstmals im Jahre 1862 – um eine Prozession zur Marienkapelle durchzuführen, das Gelübde dort oben, an einem steilen Hang im Wald von Ernen, wo eine luftlichte Welt beginnt, in der Gegenwart der Heiligen Mutter Gottes auszusprechen – : – während dem Bittgang war es den Frauen untersagt, bunte Unterwäsche zu tragen, vielleicht, weil man glaubte, der Gletscher würde durch weisse oder schwarze Unterwäsche besänftigt – oder weniger gereizt?
Obwohl das Gelübde von nun an durch jährlich stattfindende Prozessionen bekräftigt wurde, kam es weiterhin zu Gletscherbrüchen und gewaltigen Überschwemmungen.

Wären die Verheerungen nicht noch viel schlimmer ausgefallen, wenn man nicht immer gebetet und gottgläubig gelebt hätte?

Auch in diesem Jahr ist am letzten Julitag frühmorgens kurz nach sechs Uhr zwischen dem Gezwitscher der Vögel ein Glöckeln zu hören – oder sind es Stimmen? Kinder, die aus ihren unmerklich sich öffnenden Mündern hohe, helle Töne in die kühle Morgenluft senden, ein unsichtbares, festes Band, das über den Köpfen der andächtig durch das Dorf Schreitenden wieder an das Gelübde erinnert, das die im Tal lebenden Menschen Gott vor 345 Jahren zum ersten Mal gaben; eine einmütige, demütige Menschen-Herde wandert also im Takt der zum Himmel aufsteigenden Klänge, in die gemurmelte Gebete eingeflochten werden, Richtung Wald, zur Marienkapelle hinauf, die geduldig auf die Prozession wartet – darauf, dass sich die Jungen, die Älteren, Frauen und Männer, vielleicht sogar ein Hund, der sich nicht wegschicken lässt, unter ihrer Kuppel versammeln, und der Priester erhebt die Hände, spricht das Eingangsgebet, um danach mit der Gemeinde das feierliche Versprechen wie jedes Jahr vor Gott und für ihn abzulegen – : – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass man seit dem Jahre 2009 dafür bittet, der Grosse Aletsch möge doch nicht weiter schmelzen, sondern wachsen.

Hatte man zu viel gebetet, zu innig? Zu lange wissenschaftliche Tatsachen ignoriert? Aber was sind Tatsachen in Anbetracht des Glaubens? Bekräftigt nicht Gott seinen Willen, durch die Natur, den der Mensch nicht beeinflussen kann?

Ich gestehe, dass ich nicht bete; ich gestehe, dass ich nicht an Gott glaube, an einen männlichen Schöpfer; nein, ich glaube nicht an Nichts, sondern an die Schöpfung ohne Schöpfer. Freundlich, aber bestimmt, rufe ich den Bittgängerinnen und Bittgängern aus Fiesch zu: Lasst uns nach Zug pilgern! Dahin, wo die Schweiz en miniature zu Hause ist, die weltweiten Beutezüge eingefädelt, sauber arrangiert werden und deren Nutzniesser ein diskret lächelndes Willkommen geniessen – Verbrecher, Hochstapler, Schurken aus aller Welt, die sich hier in Ruhe frisieren lassen können. Im pittoresken Zug ist offensichtlich, dass das Paradies Wirklichkeit geworden ist; ein Steuer- und Offshore-Paradies, was im Klartext heisst, dass »legal« gestohlen und betrogen und geraubt wird und kein moralischer Kompass (mehr) existiert. Ja, das tut weh! Zug als Metapher für eine Schweiz ohne Gewissen – und das betrifft uns alle. 
In der Schweiz leben heisst, Zug verstehen zu müssen. Dass das Geld, das hierher »fliesst«, anderswo fehlt. Dass unser fanatisch angebeteter Reichtum sehr viele in die Armut treibt, tötet; der Glaube mit seinen Gebeten bietet nur selbstgerechten Trost und verhindert eine wirkliche Veränderung. Wir alle, in der Zugerischen Schweiz, tragen eine klar einschätzbare Verantwortung dafür, dass die Gletscher schmelzen, die Grundwasserreserven bedroht sind, Wälder verbrennen und mit ihnen Millionen unserer Mit-Geschöpfe; wir sind mit einer verstörenden Gewalt am Werk, die nur geschehen kann, wenn täglich im Namen des Allmächtigen Geldes Unrecht zu Recht umgedeutet wird und wir im religiös verankerten Glauben leben, alles – die ganze Schöpfung! – sei zu UNSEREM NUTZEN da.

Lasst uns nach Zug pilgern und das Zentrum der Kleinstadt, die heuchlerischen Fassaden der Rechtschaffenheit, mit Bildern von Eis- und Schneelandschaften auskleiden, die es so nicht mehr gibt. Lasst uns in Zug, und nicht in Fiesch, den Grossen Aletsch betrauern, indem wir ein drei Kilometer langes Band aus Stoffresten zusammennähen: um so viel ist der Gletscher seit Mitte des 19. Jahrhunderts geschmolzen; diese Stoffspur ziehen wir durch die Altstadt und der prächtigen Seepromenade entlang; und wenn Sie mich fragen, was diese lange Spur aus Stoffresten bedeuten soll, fällt mir eigentlich nur ein Satz dazu ein: sie erinnert daran, dass wir Teil dessen sind, was uns jetzt schon schmerzlich fehlt.