Kapitel 4 | Daheim/Familie/Interieur
Erzählung von Dorothee Elmiger
Entre Nous
Im Winter vor einigen Jahren las ich Die gelbe Tapete, eine Erzählung von Charlotte Perkins Gilman aus dem Jahr 1892, ich las sie rasch an einem einzigen Abend, und es scheint mir nun, wenn ich mich daran zu erinnern versuche, als wäre ich als Leserin keiner Geschichte gefolgt, sondern hätte mich für die Dauer der Lektüre in einem einzigen Zimmer aufgehalten, einem beklemmenden Zimmer in einem weitläufigen Haus.
Eine junge Frau, gerade Mutter geworden, fährt mit ihrem Mann aufs Land. Gewöhnliche Leute. Sie haben für die Zeit des Sommers ein Haus gemietet, ein historisches Anwesen. Die Frau ist krank: Ihr Mann, ein Arzt, diagnostiziert eine vorübergehende nervöse Depression, eine leichte hysterische Neigung und verschreibt ihr Ruhe. So liegt sie also da, allein in einem sonnigen, luftigen Zimmer, und sie hat nichts zu tun, soll nicht arbeiten, sich nicht rühren: Es bleibt ihr nichts übrig, als die Tapete zu studieren, eine gelbe Tapete, und sie schaut und schaut und studiert die Tapete in ihren Einzelheiten, bis sie irgendwann zu sehen meint, wie sich das Muster verändert, bis sie irgendwann glaubt, hinter dem Muster eine Frau zu sehen, eine Gefangene, und sie beginnt das Papier von der Wand zu reissen, um diese andere, die zweite Frau zu befreien.
Die Inszenierung ist spärlich: Ein Zimmer, darin eine Frau. Die Erzählerin steckt fest im Inneren des Hauses, dieser traditionell weiblichen Sphäre. Dort scheint der Horror ganz dem Interieur des Zimmers zu entspringen. Es ist die ornamentale Wandverkleidung, die die Frau in den Wahnsinn treibt. Die Geister sitzen in den Wänden: Ahninnen, Wiedergängerinnen, gespenstische Schwestern, Doppelgänger. Das Unheimliche zeigt sich an vertrautester, privatester Stelle – im Familiären, im Haus, als seltsam heller Fleck auf dem Familienporträt, als Unschärfe im Bild, in den Gesichtern der Porträtierten, die längst gestorben sind und uns jetzt aus tiefer Vergangenheit direkt in die Augen schauen.
Die gelbe Tapete, diese Verkleidung der Oberfläche zeigte schon bei der Ankunft der Frau Spuren: Andere, könnte man daraus schliessen, müssen vor ihr versucht haben, das Papier von den Wänden zu reissen und so das Interieur zu demontieren. In dieser Beschädigung der Verkleidung zeigt sich, was eigentlich im Verborgenen bleiben sollte: Die Spur eines Kampfs, der in seiner Wiederholung spukhaft wird. Das Verdrängte, dem Blick Entzogene, das auf unheimliche Weise hervordrängt.
Die Bilder des Inneren, des Häuslichen, des Privaten treten mir als Fragen entgegen, die die verkleidende Fassade und das Darunterliegende betreffen, die komplizierte Verwandtschaft von Geborgenheit und Verborgenem, das Geheimnis, den Spuk der Familie. Ist es das Schweigen der Porträtierten in Giovanni Giacomettis Riflesso del tramonto, das mich beunruhigt, oder die seltsame Überbelichtung in Anne Stebler-Hopfs Familienbild Entre nous? Ist es die Unmöglichkeit, in Erfahrung zu bringen, was der Stillenden in Cuno Amiets Mutter und Kind (Frau Grütter) durch den Kopf ging oder die Vermutung, die Abgebildeten seien mir auf zwillingshafte Weise ähnlich, sie teilten sich mir wortlos mit?