Kapitel 4 | Lehrer:in/Schüler:in

Erzählung von Frédéric Zwicker
Drei Erinnerungen eines ehemaligen Schülers an eine Professorin, eine Lehrerin und einen Sadisten

1: Der Sadist
Der Schlimmste von allen ist H. Als zum Beispiel mein Mitschüler Manuel, ein Türke, nach vorn zum Lehrerpult geht, um die gelösten Aufgaben in seinem Rechenblock korrigieren zu lassen, ruft H so laut, dass es die ganze Klasse hören kann: «Wäh, du stinkst! Geh an deinen Platz!» Und an die Klasse gerichtet: «Macht die Fenster auf!» 
H steht kurz vor der Pensionierung. Er hat Ende der 50er-Jahre als dörfliche Respektsperson seine ersten Schüler:innen geprügelt. Mitte der 90er-Jahre mag er seine Methoden keinen neuen Erkenntnissen der Pädagogik mehr anpassen. Stattdessen bleibt er ihnen treu, um wenigstens im Schulzimmer den Respekt vor seinem Berufsstand zu erhalten, der in der Gesellschaft allmählich verloren geht. 
Wenn wir still an einer Aufgabe arbeiten, schleicht er durch die Klasse. Die guten Schüler:innen und jene, deren Eltern im Dorf etwas gelten, haben nichts zu fürchten. Wir anderen ziehen aber die Köpfe ein, wenn er sich nähert. Hat man Glück, stellt er sich neben das Pult und macht eine abschätzige Bemerkung oder drückt seine Verachtung mit einem Schnauben aus. Manchmal schwatzt man aber gerade oder macht sonst etwas Verbotenes, wenn man plötzlich seine Präsenz im Rücken spürt. Es wird unnatürlich still im Klassenzimmer und der säuerliche Geruch des welkenden Mannes steigt einem in die Nase. Man würde gern gerufen: «Wäh, du stinkst! Geh an deinen Platz!» Und zur Klasse: «Macht die Fenster auf!» Stattdessen wagt man keinen Mucks und hofft auf Kopfnüsse, weil es schmerzhafter und entwürdigender ist, wenn er mit Daumen und Zeigefinger den Haaransatz im Nacken greift und mit schüttelnden Bewegungen daran reisst. Am letzten Schultag, zwölfjährig bin ich, da sagt H zu mir: «Aus dir wird nie etwas werden.»

 

2: Der Blumentopf
Frau D ist eine liebe, geduldige Frau und Geigenlehrerin. Trotzdem kommt es vor, dass man in ängstlicher Vorahnung in die Geigenstunde radelt, die sie in ihrem schönen Altstadt-Haus abhält. Das ungute Gefühl kann schon auch damit zu tun haben, dass man nur ungenügend vorbereitet ist. Schlimmer ist es aber, wenn man nebst dem Üben etwas anderes versäumt hat, von dem man befürchten muss, die liebe Frau D werde es entdecken. Und tatsächlich: Kaum hat man angefangen, irgendeine Etüde zu spielen, unterbricht sie und befiehlt, die Geige wegzulegen. Nun greift sie sich die Nagelschere, die auf dem Klavier für solche Fälle bereitliegt. Sie öffnet das Fenster und sagt: «Komm». Und dann schneidet einem die liebe Frau D die fürs Geigenspiel zu langen Fingernägeln in den Blumentopf, der das Fenstersims ziert. Und sie schneidet sie kurz! Man windet und verkrampft sich von Kopf bis Fuss, bis endlich die letzte Nagelspitze in den Blumentopf fällt. So unangenehm diese Prozedur für uns Geigenschüler ist, sie hat einen positiven Nebeneffekt: Die Blumen auf dem Fenstersims vor dem Unterrichtszimmer blühen besonders schön.

 

3: Die mitleidige Professorin
Man ist Minimalist und will, seit man denken kann, verhindern, dass die Leute einen als solchen erkennen. An einem Morgen macht man sich auf den Weg, um bei Frau Professorin S ein Philosophie-Seminar zu besuchen. Vor dem Wohnblock rahmt ein rostiger Zaun knapp unter Kniehöhe auf beiden Seiten den Weg von der Haustür zum Trottoir. An einer scharfen Kante des Zauns hängt das rechte Hosenbein ein und reisst. Man hätte Zeit genug, in der Wohnung die Hose zu wechseln und noch rechtzeitig im Seminar zu erscheinen. Stattdessen bleibt man zu Hause, näht die Hose und legt sich anschliessend aufs Sofa. Frau Professorin S schildert man sein Leid in einer kurzen E-Mail: Liebe Frau S, als ich mich heute auf den Weg zur Tram gemacht habe, habe ich mir beim Passieren eines durchgerosteten Metallzaunes an einer abstehenden Spitze das Bein aufgerissen und musste nähen gehen. Deshalb konnte ich heute nicht zur Sitzung erscheinen. 
Das ist nicht gelogen. Und Frau Professorin S schreibt zurück: Lieber Herr Z, vielen Dank für Ihre Nachricht. Ich hoffe, dass Sie inzwischen gut verarztet wurden und dass Ihre Verletzung problemlos heilen wird.