Kapitel 4 | Gemeinschaft

Erzählung von Friederike Kretzen
Gemeinschaft

Da stehen sie von Wiesenlicht übergossen, Gesandte am Brunnen, grün an Armen und Händen, festgewachsen, die Stunden über den Arm gehängt, schöne Tücher für den Abend, wenn es kalt wird. Sie warten, erinnern sich. Einst, als sie zur Welt kamen, einst, als sie den Farben und Linien entstiegen, dem grossen Meer des Lichts und der Formlosigkeit. Zu ihren Füssen Kinder. Schauen Kinder an, noch ein bisschen Wasser trinken. Kein Schiffchen zur Hand. 
Mit ihnen die Frau aus dem Zimmer auf der anderen Seite des Flurs. Gisela, die auch mit dem Rücken sieht, Schreck aller Kinder. Wartet wie die anderen aufs Losgehen, Ausschweifen mit Armen, Schwingen, Flügeln, langen Hälsen, wehenden Leinen, wogenden Kleidern dem Himmel aus Zeit zu. Sie, Gisela, und ohne sich umzudrehen, beginnt zuerst zu sprechen. Vom Wind auf den Teeplantagen, den geblähten Backen der Teetrinkenden, den Schalen in ihren Händen, astronautische Tassen. Draussen vor den Fenstern ein Park voll Kindern und Ammen, getupftes Terrain, Flocken im Mai aus hellem Stoff. 
Dann endlich losgehen, los! Alles zurücklegen, entkommen. Nicht mehr alleinsein, angeschaut werden, fotografiert, weggeschlossen, unsichtbar gemacht in der abgedichteten Nacht der Sammlungsanstalt, der grausamen Verlassenheit ihrer Keller und Lager, ihrer Blindheit und Erstarrung. Wo kein Traum sich niederlässt, wie manchmal unverhofft die Schwalben im Frühling am Japanischen Meer. Sitzen über dem Tisch auf der Lampe, schwanken, jagen schrill wieder hinaus, schneiden Kurven in die Luft, zerlegen den Himmel in ein tausendfach zersplittertes Bild. All das geschah am 10. Mai, von dem seitdem jede Spur fehlt.

 

Gemeinschaft der Bilder, verschworen und nie ist ein Bild allein ein Bild. Jedes in sich schon viele Bilder und kommen aus all den Zeiten und Ländern, in denen sich Bilder auf den Weg gemacht haben, nach etwas Besserem als dem Tod zu suchen. Nichts anderes heisst Erinnerung: Re-Member der Member, der Teile und Zugehörigkeiten, wie die Finger der Hand. Zusammenkunft, Beschwörung der Zusammenhänge. Wie bei den Ainu auf Hokkaido, oben am nördlichen Rand Japans, die jedes Jahr einmal zusammenkommen, um die Geister von Eulen und Bären zu bitten, wieder zurückzukehren, von wo sie gekommen sind, bevor sie Bären und Eulen wurden. So ähnlich verhält es sich auch mit Bildern, wenn sie sich erinnern, und um Luft, Bewegung und Zeit bitten. Um sich zu zerstreuen, den Taler, die Bedeutungen, ihre Farben und Formen wandern zu lassen. Ausschweifen in den Park, ins Varieté, zum Brunnen, ins Zimmer hinter dem schmalen Gang, ins Café, wo früher Papageien in Käfigen krächzten und von Eulen und Bären träumten.

 

Sie wollten bei sich sein und woanders, sie wollten nicht mehr nur eins sein, auch nicht unbedingt zwei, aber immer mehr als eins. So kamen sie nach Wuppertal wie Alice in den Städten. Das ist ein Film, in dem ein kleiner Junge in der Eisdiele seiner Eltern neben einer Jukebox sitzt, Eis isst und wie das Lied, das da gerade spielt, vor sich hin träumt: On the Road again. Als sie das sahen, wurden sie von einer grossen Sehnsucht ergriffen und sie verstanden, warum die Ainu nicht Bären und Eulen darum bitten, wieder zurückzukehren, sondern deren Geister. Denn jedes und jede ist immer mehr als eins. So zogen sie weiter bis nach Warschau, wo sie bei Tadeusz Kantors anheuerten. In Kantors Theater des Todes gab es eine tote Klasse, nach der auch das Stück hiess, in dem sie gerne mitspielen wollten. Darin waren alle Schauspieler doppelt, mal als Puppen, dann als leibhaftige Schauspieler. Nach kurzer Zeit war nicht mehr zu unterscheiden, ob die Puppen wirkliche Menschen oder die Menschen wirkliche Puppen waren. Gab es Blut, gab es Fleisch? Gab es sie als Bilder oder als Träume? Alles war Theater und genau das war, wovon den Gesandten am Brunnen träumte. 
Nach der Vorstellung sind sie dann wieder gegangen und alles, was sie von ihrem Ausflug noch wussten, war, dass dem Tag eine lange regnerische Nacht folgte, in der sie von fern das Lied einer Sängerin aus Kanada hörten, die für die Schüler einer Schauspielklasse und die Geister von Bären und Eulen sang.