Kapitel 1 | Muse

Erzählung von Dorothee Elmiger
Dübi-Müllers Apparat

April 1601, ein Schiff der Niederländischen Ostindien-Kompanie bewegt sich über den Indischen Ozean. An Bord ein Mann namens Joris Joostenz Laerle, über den man nicht viel mehr zu wissen scheint, als dass er, als das Schiff vor der Insel Mauritius anlegt, wohl die Vögel dokumentiert, die er dort sieht. Sein Skizzenbuch enthält auch Zeichnungen jenes grossen, flugunfähigen Tiers, das gegen Ende des 17. Jahrhunderts zum letzten Mal auf der Insel gesichtet wird: Der Raphus cucullatus, Doudo, Dudu. Kapuzentragender Nachtvogel. Blaugrau, langer Schnabel, seine Eier sind gelb. Laerles Skizzen gehören, nebst einigen Gemälden, schriftlichen Berichten von Sichtungen und einem Schädel im Naturhistorischen Museum von Oxford, zu den wenigen Anhaltspunkte zur Gestalt des Vogels, die überliefert wurden. Die Malerei hat das Tier konserviert. 

Darüber schrieb Ernst H. Gombrich in seiner Geschichte der Kunst. «The painter was a man who could defeat the transitory nature of things…» Der Maler als Mann, der die Vergänglichkeit überwindet. Der festhält, definiert, der aufbewahrt. Der dem Vergehen der Zeit seine Bilder entgegensetzt. Die Malerei als Auflehnung gegen den Tod, die Endlichkeit. Das Porträt, könnte man sagen, als Beweis einer Autorität: Der malende Mann stellt die Sterblichkeit in Frage. Dank ihm überdauert das, was er sich zu zeigen entscheidet. Und sogar das, was er verschwinden lässt.

Der Maler, der malend mit der Zeit und dem Tod umgeht, ist ganz Auge: Der Blick führt immer von ihm weg, wir bekommen ihn selten zu Gesicht. Aber als Gertrud Dübi-Müller, selbst Künstlerin, im Jahr 1916 in Ferdinand Hodlers Ateliergarten Platz nimmt und für den Maler Modell sitzt, lässt sie diesen Akt, die Entstehung des Brustbilds, mit einem Fotoapparat dokumentieren. Schnappschüsse scheinbar, Momentaufnahmen über Hodlers Schulter hinweg, die den Maler zugleich ins Bild und an seinen Rand rücken. 

Dieses Gerät, die Kamera, ist der Grund, weshalb Gombrich in seinem Satz über den Maler die Vergangenheitsform wählt – die Aufgabe, die Vergänglichkeit zu überwinden und festzuhalten, was ist, fällt seit dem 19. Jahrhundert der Fotografie zu. Und die Fotografie ist schnell. Vergleichsweise unauffällig. Sie ist, könnte man meinen, eine Art Trick. Mit ihr lässt sich, so scheint es, ganz unmittelbar schauen.

Der Apparat erlaubt Dübi-Müller eine Dekonstruktion der Szene, eine Erweiterung des Blicks. Wir sehen den Künstler bei der Arbeit: Das behelfsmässige Arrangement, seine Vorkehrungen gegen das Sonnenlicht. Aber die Kamera nimmt nicht nur den malenden Mann ins Bild, sie erwidert nicht nur jenen Blick, den der Künstler auf sie, die Porträtierte wirft. Stattdessen ahmt sie das Schauen des Künstlers nach, blickt mit ihm auf die Frau, die nun zweifach erscheint, verdoppelt: Das Porträt wird ergänzt um sein Modell, eine Person. Wir können sie nun selbständig sehen, unabhängig von den Augen und den Entscheidungen des Künstlers.

Eine kleine Entthronung, könnte man meinen, ein leiser Skandal: Wir sehen den Maler plötzlich in der Vergangenheitsform, als Sterblichen. Ganz deutlich auf einmal, wie sehr auch er in der Zeit verhaftet ist. Klein steht er vor seinem Blick in die Unendlichkeit, er reicht den riesigen Frauen, wenn er seinen Arm ausstreckt, gerade mal bis zur Hüfte. Und sie schauen alle aus dem Bild hinaus.